Wenn irgendwo in Europa eine Spionagezelle auffliegt, schaut man reflexartig Richtung Osten. FSB, GRU, St. Petersburg. Diesmal liegt das Epizentrum allerdings genau dort, wo eigentlich europäische Entscheidungen getroffen werden: in Brüssel. Und verantwortlich ist kein russischer General – sondern ein EU-Regierungschef. Viktor Orbán.
Zwischen 2012 und 2018 hat die ungarische Auslandsaufklärung systematisch EU-Beamte ausgespäht. Keine James-Bond-Nummer, sondern gezielte Kontaktaufnahme, Profiling, Anwerbung. Mitten im Apparat der Europäischen Kommission. Vor allem bei ungarischen Staatsbürgern, die dort bereits angestellt waren. Die Mission: rausfinden, welche Entscheidungen vorbereitet werden – und Orbán frühzeitig informieren. Kein Griff nach Atomplänen. Es ging um politischen Vorsprung.
Das hier war keine Spionage im klassischen Sinn – das war Machtpolitik mit Zuhörfunktion. Brüssel ist kein Geheimdienst – es ist ein offenes Datenlager mit Etikette. Die Agenten arbeiteten direkt aus dem Büro von Oliver Várhelyi, damals ungarischer Botschafter bei der EU, später Kommissar für Erweiterung, aktuell zuständig für Gesundheit. Ein enger Vertrauter Orbáns. Und laut Medienberichten das diplomatische Dach für die gesamte Operation. Várhelyi selbst will von alldem nichts gewusst haben.
Die ungarischen Agenten traten unauffällig auf, boten Karrieren, sprachen von Loyalität, machten auf patriotisch. Einige Beamte gaben kleinere Informationen weiter, andere lehnten ab. Alles lief über einen Mann mit dem Codenamen „V.“, der die Fäden zog – bis er selbst zu ungeduldig wurde. Ab 2017 kam der Druck direkt aus Budapest. Die Netzwerke sollten wachsen, schneller liefern, mehr Einfluss bringen.
„V.“ warf die Diskretion über Bord. Kommunikation per Handy. Treffen in der Öffentlichkeit. Direktanfragen an Kommissionsmitarbeiter. Kein Aufwand mehr, keine Tarnung. Und irgendwann war es so auffällig, dass selbst die EU-Sicherheitsdienste hinschauten.
2018 flog die ganze Operation auf. Nicht wegen entschlossener Gegenwehr. Sondern weil sie zu schlampig geworden war.
Dass in Brüssel spioniert wurde, war ein offenes Geheimnis. Beamte sprachen es an, Politico schrieb darüber, das Investigativnetzwerk Direkt36 legte den Fall offen. Und was tat die Kommission? Ein internes Audit. Várhelyi blieb im Amt. Ursula von der Leyen erklärte, es gebe keinen Anlass, ihn zu entlassen.
Brüssel weiß, dass es ausspioniert wurde – und liefert lieber einen Auditbericht ab, als einen politischen Preis zu verlangen. Weil man in der EU niemandem wehtun will. Auch dann nicht, wenn man selbst gerade ausgeraubt wurde.
Für Orbán war das keine riskante Operation. Es war Teil seiner Strategie. Die EU braucht er nicht als Partner – sondern als Feindbild. Jede Auseinandersetzung mit Brüssel zahlt sich für ihn aus. Ob Inflation, Korruption oder Justizskandale – Brüssel ist immer der Sündenbock. Und wenn dann auch noch auffliegt, dass er seine eigenen Leute in der Kommission hatte: Jackpot. Nicht nur Informationen gewonnen, sondern gleich auch noch das nächste Narrativ geliefert.
Diese Logik kennt man aus Moskau. Sie trägt Uniform. Hier trägt sie einen EU-Ausweis.
Im Rat der EU gilt Einstimmigkeit. Eine einzige Regierung kann alles blockieren: Sanktionen, Ukrainehilfen, Verteidigungspakete. Und jedes Mal, wenn Brüssel sich zu einem Ukraine-Hilfspaket durchringt, steht Ungarn am Tor – mit dem Schlüssel in der Hand und einer Preisliste im Ärmel.
Die Einstimmigkeit ist nicht mehr Schutz der Einheit – sie ist die Eintrittstür für Erpressung. Wenn man dann auch noch weiß, was die anderen planen, bevor sie es selbst beschlossen haben, wird das Ganze nicht nur politisch. Es wird strategisch. Spionage als taktische Frühwarnung. Sabotage mit Vorankündigung. Und Brüssel schaut zu.
Die Kommission hätte ein klares Zeichen setzen können. Hat sie nicht. Várhelyi bleibt. Kein Disziplinarverfahren. Kein politischer Preis. Keine institutionelle Selbstverteidigung. Denn sobald es um einen der eigenen Kommissare geht, zieht Brüssel die Samthandschuhe an. Bloß keinen Präzedenzfall schaffen. Bloß keinen Konflikt eskalieren.
Was anderswo ein Skandal wäre, wird in Brüssel zu Papierkram. Ein bisschen Aufregung, ein paar E-Mails, und am Ende eine Lösung, mit der jeder leben kann. Auch der Täter.
Die Realität: Orbán spielt mit der Schwäche der EU – und die EU spielt mit. Solange Brüssel glaubt, man könne mit jedem Mitgliedsstaat irgendwie auskommen, wird es immer jemanden geben, der genau das ausnutzt. Und zwar systematisch.
Die EU wurde nicht besiegt. Sie hat nur vergessen, zurückzuschlagen. Und genau das ist das Problem. Ein interner Bericht wird kommen. Várhelyi bleibt im Amt. Ungarn bleibt in der Blockadehaltung. Und Orbán verkauft auch das noch als Sieg.
Der größte Skandal ist nicht, dass Orbán spioniert hat. Sondern dass er es konnte. Und dass niemand die Entschlossenheit hatte, ihn zu stoppen.
Wenn Europa nicht bald die Kraft findet, sich selbst zu verteidigen, wird es irgendwann nicht mehr merken, wer im Gebäude das Licht ausmacht.
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— Trollhunter
Quellen und Einordnung:
Basierend auf Recherchen von Direkt36, De Tijd und Politico (Oktober 2025) sowie offiziellen Aussagen der EU-Kommission und öffentlich dokumentierten Ratsentscheidungen. Hintergrundanalysen von Euractiv, Reuters und OSW bestätigen die wiederholte Blockadepolitik Ungarns und Orbáns anti-EU-Rhetorik.
					



