Während in Europa Rüstungskonferenzen vertagt, Friedensappelle formuliert und rote Linien verwaltet werden, zieht Russland weiter in einen Krieg, den es längst nicht mehr gewinnen kann – aber auch nicht beenden will. Der aktuelle Bericht des US-Thinktanks CSIS legt diese Realität in einer Nüchternheit offen, die schwer zu entkräften ist. Seit Januar 2024 macht Putins Armee im Schnitt 50 Meter pro Tag gut – an manchen Abschnitten etwas mehr, an vielen gar nichts. Dafür bezahlt sie mit Hunderttausenden Toten, mit zerstörter Technik in fünfstelliger Zahl und mit einem strategischen Bankrott, der nicht offen eingestanden wird, sondern sich leise durch die Statistik frisst.
Im Raum Charkiw – konkret rund um Kupjansk – hat Russland in fünf Monaten ganze acht Kilometer gewonnen. In Donezk, rund um Pokrowsk, stehen nach anderthalb Jahren Offensive 60 Kilometer Geländegewinn zu Buche – Durchschnitt: 135 Meter pro Tag. Das sind Zahlen aus dem Ersten Weltkrieg, übertragen auf die größte Armee Europas im 21. Jahrhundert.
Nur dass damals noch Pferde ritten, keine Satelliten kreisten.
Für diese paar Kilometer hat Russland über 1.000 Schützenpanzer, fast 2.000 Kampfpanzer und eine Viertelmillion Menschenleben verbraucht.
Diese Armee gewinnt nichts. Sie zermalmt sich selbst. Die Gesamtverluste seit 2022 liegen laut CSIS bei über 950.000 Toten und Verwundeten. In Kürze wird die Million überschritten. Über 250.000 davon sind gefallen. Das ist fünfmal so viel wie in allen sowjetischen und russischen Kriegen seit 1945 zusammen. Afghanistan, beide Tschetschenienkriege, Georgien, Syrien – kein Vergleich.
Was hier passiert, ist kein Krieg mit begrenztem Ziel. Es ist ein strukturelles Massensterben im Namen einer imperialen Behauptung.
Putins Erzählung klingt dabei wie ein Echo aus dem 19. Jahrhundert. In seinem Essay über die „historische Einheit der Russen und Ukrainer“ beschreibt er die Ukraine als Teil eines gemeinsamen Ursprungs, als kulturelle Abweichung, die sich rational nicht begründen lasse. Zitat: „Wie kann man dieses Erbe zwischen Russland und der Ukraine aufteilen?“
Die Antwort liefert er selbst – mit Bomben, Bajonetten und Betonpyramiden.
Wer sich nicht fügen will, wird gebrochen.
Es ist keine Annäherung. Es ist ein Rückbau zur Unterwerfung. Wer das nicht versteht, versteht auch nicht, warum dieser Krieg nie als territorialer Konflikt gemeint war.
Auf dem Schlachtfeld zeigt sich das täglich. Russland setzt auf Erschöpfung – auf zermürbende Frontalangriffe mit schlecht ausgebildeten Einheiten, oft aus Straflagern oder entlegenen Regionen rekrutiert. Wer fällt, wird ersetzt. Wer überlebt, wird beim nächsten Vorstoß verheizt.
Russland bestimmt nicht, ob es Fortschritte erzielt – sondern nur, wann und wo seine Soldaten fallen.
Was in Moskau als aktives Handeln verkauft wird, ist in Wahrheit die taktische Verwaltung eines permanenten Verlusts.
Russland spricht in diesem Zusammenhang gern von „strategischer Initiative“. Doch dieser Begriff verschleiert mehr, als er erklärt. Initiative heißt im militärischen Sinn: die Fähigkeit, dem Gegner den Takt aufzuzwingen – durch Tempo, Überraschung oder operative Überlegenheit.
Russland besitzt nichts davon. Es agiert nicht, es wiederholt. Was dort stattfindet, ist kein Vorstoß, sondern ein ständiger Rückkauf von Bedeutung – mit Blut.
Wer entscheidet, wann er verliert, führt keinen Krieg mit Initiative. Er verwaltet einen Dauerschaden.
Dem gegenüber steht eine ukrainische Verteidigung, die sich als erstaunlich widerstandsfähig erwiesen hat. Mit gezieltem Einsatz von Drohnen, effektiven Abwehrstellungen und innovativer Taktik gelingt es der Ukraine, nicht nur russische Angriffe abzuwehren, sondern tief in russisches Territorium hineinzuwirken – zuletzt mit präzisen Drohnenangriffen auf Luftwaffenstützpunkte.
Die technische Asymmetrie fällt zunehmend zugunsten Kiews aus, sofern entsprechende Unterstützung durch westliche Partner gewährleistet bleibt.
Russland verfügt weder über operative Dynamik noch über strategische Flexibilität. Der tatsächliche Hebel, auf den der Kreml setzt, liegt außerhalb des Schlachtfeldes: das politische Durchhaltevermögen der westlichen Demokratien.
Nicht militärische Stärke, sondern westliche Müdigkeit ist die zentrale Hoffnung des Kremls.
Der Rückzug der USA aus Syrien, der Abbruch der Unterstützung für die afghanische Regierung, das Scheitern multilateraler Stabilisierung – all das sind Präzedenzfälle, auf die Moskau spekuliert.
Dabei gäbe es wirkungsvolle Optionen: gezielte wirtschaftliche Schwächung und klare militärische Verstärkung. Die russische Wirtschaft ist angreifbar – nicht irgendwann, sondern jetzt. Rund 40 % der russischen Staatseinnahmen stammen aus Öl- und Gasexporten. Sekundärsanktionen gegen Drittstaaten könnten diese Einnahmen um bis zu 20 % senken – mit überschaubaren Auswirkungen auf westliche Märkte.
Gleichzeitig liegen rund 300 Milliarden US-Dollar an eingefrorenen russischen Vermögen ungenutzt auf westlichen Konten.
Das Geld ist da. Der Hebel ist da. Es fehlt die Entscheidung, ihn umzulegen.
Dass die Ukraine militärisch bestehen kann, ist kein theoretisches Szenario, sondern täglich beobachtbare Realität. Das Problem liegt nicht auf dem Schlachtfeld. Es liegt in den Entscheidungszentren westlicher Politik – dort, wo Waffenlieferungen zögern, Sanktionen verwässert und Chancen vergeben werden.
Russland ist nicht unbesiegbar. Es ist strukturell verwundbar – wirtschaftlich, militärisch, sozial.
Doch solange diese Verwundbarkeit nicht konsequent adressiert wird, bleibt dem Kreml Raum für Eskalation.
Dieser Krieg ist nicht nur ein Konflikt zwischen zwei Armeen. Er ist ein Test der strategischen Standfestigkeit Europas und seiner Partner.
Die Ukraine trägt die Hauptlast.
Sie beweist täglich, dass sie in der Lage ist, einen atomar bewaffneten Angreifer zurückzuschlagen – unter enormen Opfern, mit begrenzten Mitteln.
Sie braucht dafür keinen Applaus.
Sondern konkrete Unterstützung.
Eine Million Opfer.
Für 135 Meter am Tag.
Und keine Einsicht.
Die Ukraine hat längst gezeigt, dass man Russland schlagen kann.
Die Frage ist nicht, ob das möglich ist.
Die Frage ist, ob Europa es zulässt.
Alle Zahlen und Einschätzungen basieren auf öffentlich zugänglichen Quellen. Die wichtigsten:
– CSIS Russia–Ukraine War Report (Juni 2025)
– Berichte des ukrainischen Generalstabs (2024/2025)
– Open-Source-Analysen wie GeoConfirmed & DeepState
– Offizielle NATO-Daten zu russischen Verlusten
– Putins Essay „On the Historical Unity of Russians and Ukrainians“ (2021)
– Bruegel: Russia oil revenues 2024
– Weltbank & EU-Dossiers zum Sanktionsregime (inkl. Sekundärsanktionen)