Der Westen glaubt immer noch, Russland sei ein Land mit Problemen. In Wahrheit ist Russland das Problem. Kein Staat auf dem Weg zur Demokratie, sondern ein kollektiver Rückfall in den Mythos des permanenten Kriegs. Und je länger man versucht, das zu verstehen, statt es zu stoppen, desto größer wird der Schaden.
Der britische Historiker Mark Galeotti hat ein Buch geschrieben, das genau das Gegenteil will: verstehen. Forged by War – geschmiedet im Krieg – heißt das Werk. Es beschreibt, wie russische Identität durch Jahrhunderte militärischer Gewalt, imperialer Unsicherheit und historischer Mythen geformt wurde. Galeotti analysiert Putins Geschichtsbild, seine Rückgriffe auf den Zweiten Weltkrieg, seine Konstruktion einer identitätsstiftenden Opferrolle. Das ist alles klug, alles belegt, alles nachvollziehbar. Und trotzdem bleibt es zu kurz. Denn was wie Analyse klingt, ist in Wirklichkeit ein Missverständnis mit Ansage: Die Ursache für Russlands Zustand liegt nicht in seiner Geschichte. Sondern in seiner Gegenwart.
Russland ist keine Nation, die unter einer historischen Last zusammenbricht. Es ist eine Gesellschaft, die sich in dieser Last eingerichtet hat. Freiwillig. Mit Lust. Der Krieg ist nicht ihr Trauma. Er ist ihre Sprache. Galeotti beschreibt, wie Putin auf die Geschichte zurückgreift, um eine neue ideologische Klammer zu finden. Aber das ist nicht die Ausnahme, das ist die Regel. Russland hat nie aufgehört, sich über Gewalt zu definieren. Was Stalin für die Großväter war, ist Putin für die Enkel: Projektionsfläche für Machtfantasien, moralischer Freibrief für Aggression, Garant für Ordnung im Chaos. Nicht trotz der Verbrechen. Sondern wegen ihnen.
Putin ist nicht der Erfinder dieses Systems. Er ist seine logische Konsequenz. Kein Wahnsinniger, kein Diktator im luftleeren Raum. Sondern das, was herauskommt, wenn man einem imperialen Volk erlaubt, sich selbst zu wählen. Er wurde nicht aufgedrängt. Er wurde gewollt. Er ist nicht der Zerstörer Russlands. Er ist sein Spiegel.
Die Vorstellung, mit seinem Abgang würde sich alles normalisieren, ist naiv. Russland ist nicht Putins Geisel. Es ist sein Komplize. Der Großteil der Bevölkerung steht nicht unter Zwang, sondern unter Überzeugung. Die Mehrheit will nicht Demokratie, Offenheit, Verantwortung. Sie will Stolz, Angst und Kontrolle. Sie will Weltbedeutung, ohne Leistung. Sieg, ohne Recht. Rache, ohne Schuld.
Das Problem ist nicht, dass Putin die Russen verführt hat. Das Problem ist, dass Millionen in ihm das gesehen haben, was sie sein wollen. Der Krieg in der Ukraine hat das nicht verändert. Im Gegenteil: Er hat es bestätigt. Die Bevölkerung trägt diesen Krieg nicht nur mit. Sie feiert ihn. Die Drohnenangriffe. Die Deportationen. Die Atombombenwitze im Frühstücksfernsehen. All das ist keine Panne im System. Es ist das System.
Der Westen aber tut so, als ginge es immer noch um Putin. Um einen Mann, der irgendwann verschwindet, und mit ihm das Problem. Als hätte man es mit einem entgleisten Politiker zu tun. In Wahrheit steht man vor einem ganzen Land, das sich systematisch gegen jede Form der zivilisatorischen Eingliederung sperrt. Weil es nicht will. Weil es nicht muss. Weil es nie gelernt hat, dass Aggression falsch ist.
Russland hat nach dem Fall der Sowjetunion keine Aufarbeitung erlebt. Kein Nürnberg. Kein Marshallplan. Kein demokratischer Neubeginn. Es wurde nicht geschlagen, nicht entwaffnet, nicht entideologisiert. Es wurde einfach gelassen. In seinen Mythen, in seinem Opferbild, in seiner Unbelehrbarkeit. Und genau das rächt sich jetzt. Wer glaubt, dass man eine Atommacht mit Nazi-Nostalgie und Weltuntergangssehnsucht durch Dialog integriert bekommt, hat nichts aus dem 20. Jahrhundert gelernt.
Es geht nicht um Russland als Opfer seiner Geschichte. Es geht um Russland als Täter seiner Gegenwart. Und es geht um einen Westen, der lieber analysiert, statt Konsequenzen zu ziehen. Kein Dialog, keine Sanktion, keine strategische Geduld hat bisher gereicht, dieses Land von seinem Kurs abzubringen. Warum auch? Russland hat nichts zu verlieren, aber alles an sich gerissen: Territorien, Narrative, Angst.
Die entscheidende Frage lautet nicht, wie man Russland einbettet. Sondern wie man es auf Distanz hält. Nicht für fünf Jahre. Für fünfzig. Kein Veto im Sicherheitsrat. Keine Gipfel mit westlichen Führern. Kein Recht auf „Sicherheitsinteressen“. Wer das Land zurück in die „internationale Gemeinschaft“ holen will, verkennt, dass es diese Gemeinschaft aktiv zerstören will – und immer wieder zerstören wird, wenn man es lässt.
Russland ist nicht auf dem Weg zur Normalität. Es ist ein Labor für den nächsten Krieg. Und solange man sich weigert, das auszusprechen, solange wird es auch keinen Frieden geben. Nicht in der Ukraine. Nicht in Georgien. Nicht im Baltikum. Nicht im Kopf.
Wer heute noch glaubt, es gehe um den „Irrweg Putins“, hat nicht verstanden, dass Putin keine Krankheit ist, sondern ein Symptom. Und Russland kein Patient, sondern ein Täter mit Rückfallgarantie.
Der Fehler der Welt war nicht, Putin zu unterschätzen. Sondern Russland immer wieder die Hoffnung zu geben, es könne einfach so zurückkehren – als wäre nichts gewesen. Dieses Land hat nicht nur Grenzen verletzt, sondern Begriffe. Es hat den Unterschied zwischen Macht und Recht verwischt. Zwischen Stolz und Hass. Zwischen Verteidigung und Vernichtung.
Die historische Parallele zur Nachkriegszeit liegt nicht in der Westintegration Russlands. Sondern in seiner Abwicklung. Deutschland hat 1945 nicht darum gebeten, demokratisch zu werden. Es wurde gezwungen. Russland muss genau das erleben – oder es wird wiederkommen. Unter neuem Namen. Mit neuem Gesicht. Aber mit demselben Ziel.
Russland ist kein Problem, das sich von selbst löst. Es ist ein Risiko, das sich nur kontrollieren lässt. Und wer das heute noch nicht einsieht, wird es morgen wieder bereuen.
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— Trollhunter
Quellen und Einordnung:
Basierend auf einem Interview des britischen Russland-Experten Mark Galeotti über die historische Prägung der russischen Gesellschaft („Forged by War“) sowie eigenen Analysen zur politischen Kultur der Russischen Föderation seit 1991. Der Text fasst die zentrale These zusammen, dass Russland keine durch Putin deformierte Nation ist, sondern ein durch Krieg und imperiale Selbsttäuschung geformtes System.
					



