Imperien fallen auf zwei Arten: von außen – oder weil sie sich selbst nicht mehr halten können. Prometheismus ist die zweite Variante. Und genau deshalb dreht Moskau gerade durch. Nicht wegen der NATO. Nicht wegen Taurus. Wegen einer alten Idee, die in Polen geboren wurde und jetzt in der Ukraine wieder aufersteht. Eine Idee, die den Kern russischer Macht angreift, ohne auch nur eine Grenze zu überschreiten. Nicht die Rakete trifft das Herz des Imperiums. Die Tatsache, dass seine Kolonien anfangen, sich selbst zu sehen.
Prometheismus war nie eine Philosophie. Es war ein Werkzeugkasten. Entwickelt von Józef Piłsudski, dem Gründer des modernen Polen, als Antwort auf eine einfache Frage: Wie hält man ein Imperium davon ab, Europa alle paar Jahrzehnte in Brand zu setzen? Seine Antwort war radikal einfach: Man nimmt ihm die Völker weg. Keine Eroberung, sondern politische Subjektivität. Die Idee war, alle nicht-russischen Nationen – Ukrainer, Georgier, Tataren, Baschkiren, Tschetschenen, Burjaten, Jakuten – so zu unterstützen, dass sie sich selbst organisieren, koordinieren und irgendwann eines tun: sich verabschieden.
Diese Idee war nach dem Zweiten Weltkrieg jahrzehntelang vergessen. Sie überlebte im Exil, bei amerikanischen Diplomaten mit polnischen Wurzeln, bei Sicherheitsberatern wie Zbigniew Brzeziński, bei politischen Außenseitern. Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine ist sie wieder da. Diesmal nicht als Denkmal, sondern als Handlungsvorschlag. Denn plötzlich passiert genau das, was Piłsudski wollte – nur nicht in Warschau, sondern in Kiew: Die Ukraine gibt nicht-russischen Bewegungen Schutz, Plattform und Vernetzung. Sie behandelt sie nicht als Minderheiten, sondern als potenzielle Partner in der Zerschlagung einer imperialen Ordnung.
Und genau das macht Moskau nervös. Sehr nervös. Denn die russische Föderation lebt von der Fiktion des „multinationalen Staates“. In Wahrheit ist sie eine klassische Kolonialmacht, deren Zentrum nur noch durch Repression und Erzählung funktioniert. Sobald aber Burjaten, Tuwiner, Dagestaner, Baschkiren oder Sacha nicht mehr gegeneinander ausgespielt, sondern miteinander verbunden werden, fällt das ganze Konstrukt in sich zusammen. Horizontale Koordination ist der Tod des vertikalen Imperiums. Und der Kreml weiß das.
Deshalb versucht Russland, Prometheismus zum Schreckgespenst zu machen. Zum Werkzeug des Westens. Zur Subversion. Zur Verschwörung. Russische Thinktank-Attrappen wie Vladislav Gulevich schreiben hysterische Pamphlete über einen „Putsch im Inneren“, über „polnisch-kanadisch-ukrainische Unterwanderung“, über „Trennungsversuche“, die angeblich den Weltfrieden gefährden. Gulevich selbst ist kein Analytiker, sondern ein Scharnier – zwischen staatlich abgesegneter Paranoia und publizistischer Vorwärtsverteidigung. Wenn jemand wie Gulevich in Panik gerät, weißt du, dass das Imperium anfängt zu bröckeln. Er war einer der Ersten, der den Prometheus-Sicherheits-Hub in Lwiw als „Zentrale des Zerfalls“ bezeichnete. Dabei war das nichts anderes als ein Ort für politische Bildungsarbeit nicht-russischer Völker im Exil. Und genau das macht ihn für Moskau so gefährlich.
Der Kreml fürchtet keine Bomben, keine Waffen, keine Gewalt. Nur Vernunft. Prometheismus ist das stille Gegenteil russischer Herrschaft: keine Okkupation, keine Assimilation, kein Gewaltmonopol. Es geht um Selbstbestimmung, Autonomie, Koordination. Und in dieser Kombination liegt die Sprengkraft. Ein Imperium, das nur durch Zwang existiert, stirbt in dem Moment, in dem seine Bestandteile eine Alternative sehen. Man muss sie nicht einmal verwirklichen – sehen reicht.
Der Westen, vor allem die USA, beginnt genau das zu verstehen. Jamestown – ein amerikanischer Thinktank mit langer Erfahrung im postsowjetischen Raum – hat es als erster ausgesprochen: Der Zerfall Russlands ist kein Chaos. Er ist eine Option. Und zwar eine, die weniger destabilisierend wäre als die Fortsetzung des Status quo. Denn ein ungebrochenes Imperium bedeutet nicht Frieden. Es bedeutet die Garantie des nächsten Krieges. Wer Stabilität will, muss das Imperiale abbauen – bevor es wieder losschlägt. Für Europa bedeutet das, dass Sicherheit künftig nicht im Erhalt Russlands liegt, sondern in seinem geordneten Ende. Dafür braucht es keine Truppen. Nur den Mut, die unterdrückten Völker ernst zu nehmen.
Bugajski, einer der einflussreichsten Denker des neuen Prometheismus, hat diese Gedanken bis zu seinem Tod vor wenigen Wochen weitergetragen. Er traf sich mit Exilregierungen, mit Aktivist:innen, mit westlichen Entscheidungsträgern. Und er sagte ganz offen: Russland als Zentralstaat wird immer wieder eskalieren – der einzige Weg zur friedlichen Ordnung in Eurasien ist ein kontrollierter, phasenweiser Abbau des imperialen Kerns. Kein Chaos. Struktur. Keine Intervention. Politische Subjektivierung.
Wenn Moskau Prometheismus also zur Gefahr erklärt, dann nicht, weil er unwirksam ist. Sondern weil er endlich wirkt. Weil die imperialen Eliten begreifen, dass der Feind nicht außen steht, sondern ihnen im Inneren wegläuft. Und weil die Erzählung vom „Russischen Volk“ als Einheit längst nicht mehr trägt. Sobald sich das herumspricht, fällt die Legitimität. Und damit das Imperium. Nicht über Nacht. Nicht per Revolution. Durch strukturelle Erschöpfung. Die ist viel gefährlicher.
Die hysterischen Ausbrüche russischer Kommentatoren sind keine Propaganda-Show mehr. Sie sind Vorbeben. Der Moment, in dem ein System merkt, dass sein Ende nicht mehr von außen kommt – sondern aus seinem eigenen Innersten. Was bleibt, ist Angst. Und genau darin liegt die Stärke des Prometheismus: Er funktioniert, wenn er gefürchtet wird.
Der Rest ist nur eine Frage der Zeit. Und der Nerven.
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— Trollhunter
Quellen und Einordnung:
Analyse basierend auf einem Bericht des Jamestown Institute über die Rückkehr des Prometheismus als anti-imperiale Doktrin und auf russische Reaktionen in staatlichen Medien. Ergänzt durch Hintergrundrecherchen zu Janusz Bugajski, Józef Piłsudski und aktuellen Bewegungen nicht-russischer Nationen im Exil.
					



