Russland schreibt sich gerade ein neues Glaubensbekenntnis. Es nennt sich „Kodex des Russen“. Klingt wie ein Ethik-Leitfaden – ist in Wahrheit ein Werkzeug zur Gesinnungskontrolle. Verfasst von Sergej Karaganow, einem der Chefideologen des Kreml, zielt dieser Text nicht auf Diskussion, sondern auf Sortierung: Wer dazugehört, wer nicht. Wer Karriere machen darf. Wer draußen bleibt. Wer Feind ist.
Der Kodex soll definieren, wer ein „richtiger Russe“ ist. Nicht kulturell. Sondern ideologisch. Und er soll zur Grundlage werden – für die Auswahl der Elite, für den Bildungsweg, für den Zugang zum Staatsapparat. Was hier entsteht, ist keine Vision. Sondern ein Selektionsmechanismus. Ein Filterstaat. Und das Vorbild ist eindeutig: das iranische System „Gozinesh“, das Loyalität prüft wie ein Bewerbungsbogen. Russland baut gerade seine eigene Version – mit orthodoxer Rhetorik, imperialem Größenwahn und einem Stalin-Denkmal im Hintergrund.
Die Begriffe im Kodex wirken harmlos: Spiritualität. Natur. Humanismus. Dienst am Vaterland. Aber wer genauer hinschaut, merkt schnell: Das ist keine Moral, das ist Tarnfarbe. Der Russe, heißt es im Text, sei ein „kämpfendes Volk, bereit zum Sturm“. Vielfalt sei wichtig – „unter russischer Führung“. Und Humanismus bedeutet: Wir retten die Welt, notfalls mit Gewalt. Das ist keine Werteordnung. Das ist ein Kampfauftrag.
Und weil ein solcher Kodex allein nicht reicht, wird er gleich ins System eingespeist. Schulen, Unis, Behörden. Zusammen mit dem neuen Pflichtfach „Grundlagen russischer Staatlichkeit“ entsteht eine ideologische Infrastruktur, die Loyalität nicht vorschlägt, sondern voraussetzt. Wer mitläuft, kommt voran. Wer nicht, bleibt stehen. Oder verschwindet.
Parallel dazu: die Rückkehr Stalins. Neue Denkmäler in Vologda, Ulan-Ude, Nikolsk. Umbenennungen von Flughäfen, staatlich abgesegnet. In Reden wird er zum „Führer im Krieg“ verklärt, zum „Schöpfer der Nation“. Gleichzeitig häufen sich Strafverfahren gegen Kritiker, Aktivisten, Lehrer, Journalisten. Wer die Armee kritisiert, macht sich strafbar. Wer den Krieg infrage stellt, wird zur „fünften Kolonne“ erklärt. Und mitten in diese Atmosphäre legt Karaganow seinen Text. Als Baustein. Nicht als Zufall.
Denn was er schreibt, ist keine Theorie. Es ist ein Betriebssystem. Mit drei Kategorien: Die Loyalen – sie bekommen Karriere, Aufträge, Wohnungen. Die Stillen – sie bleiben unter Beobachtung. Die Feinde – sie verlieren alles. Ausbildung, Einkommen, Rechtsschutz. Wer heute in Russland aufsteigen will, muss nicht klug sein – sondern korrekt. Und korrekt heißt: angepasst.
Das System ist nicht neu. Nordkorea arbeitet seit Jahrzehnten damit. Auch China hat es perfektioniert – mit Sozialkreditpunkten, Denk-Schulungen und Disziplinierung durch Belohnung. Russland geht jetzt denselben Weg – aber im Gewand von Moral. Der Kodex ist ihr neuer Katechismus.
Und er kopiert munter: das chinesische „Tianxia“-Konzept – also eine Weltordnung unter chinesischer Führung – wird russifiziert. Der römische „mos maiorum“ – der Ehrenkodex der Ahnen – dient als Vorlage für ein System, das Ideologie zur Bedingung für Teilhabe macht. Wer die richtigen Werte verinnerlicht, gehört dazu. Wer nicht, wird markiert. Das ist keine Gesellschaft. Das ist eine Sekte mit Staatsbudget.
Die größte Täuschung dabei ist das Vokabular. Es geht nicht um Patriotismus, sondern um Kadertreue. Nicht um Vielfalt, sondern um Russifizierung. Nicht um Werte – sondern um Werkzeuge. Der Kodex ist kein Diskussionsbeitrag. Er ist ein Test: Wer gehorcht, wer schweigt, wer stört. Und damit ein Fahrplan für einen Staat, der sich selbst erhalten will – auch ohne Putin.
Denn das ist der eigentliche Zweck. Der Kodex macht den Putinismus übertragbar. Wenn Loyalität zum Karrierekriterium wird, wenn Gesinnung prüfbar ist, wenn Ideologie zur Schulpflicht wird – dann braucht es keinen Putin mehr. Dann funktioniert das System alleine. Weil es die Menschen selbst reproduzieren. Der Führerkult bleibt – auch ohne Führer.
Und der Führerkult wächst. Putin wird heute schon als „Geschenk des Schicksals“ beschrieben, als „Vereiner der russischen Ländereien“, als neue Inkarnation alter imperialer Helden. Konzerte, Dokus, Sprechchöre. Zitate werden zu Mantren, Kritik zum Tabu. Die gesamte Öffentlichkeit dreht sich um einen Mann, den man nicht mehr kritisieren darf – und auch nicht mehr ersetzen kann. Der Kodex liefert dafür den moralischen Überbau.
Was das bedeutet? Dass Russland gerade seine Ideologie betoniert. Nicht offen. Sondern systematisch. Nicht mit Zwang. Sondern mit Struktur. Die Repression ist da – aber sie braucht gar keine Gewalt, wenn die Infrastruktur der Anpassung gut gebaut ist. Und genau das ist der Punkt: Der Kodex ist kein Text. Er ist ein Hebel.
Und wer jetzt denkt: Das ist eine russische Geschichte, soll sich anschauen, wie viele europäische Politiker sich an Russland orientieren. Wie viele Parteien ihre Narrative übernehmen. Wie viele westliche Stimmen plötzlich von „Tradition“, „Staatlichkeit“ und „kultureller Selbstbehauptung“ reden – mit Formulierungen direkt aus Karaganows Baukasten. Der Kodex des Russen ist ein nationales Projekt – aber mit internationalen Ambitionen. Als Denkmodell. Als Testfall. Als Virus.
Putin braucht keine Panzer mehr, um Europa zu schwächen. Er braucht nur Ideen. Und Menschen, die bereit sind, sie zu übernehmen.
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— Trollhunter
Quellen und Einordnung:
Der Artikel stützt sich auf eine Analyse der Jamestown Foundation zum „Kodex des Russen“ von Sergej Karaganow, einem der führenden Kreml-Ideologen. Ergänzend einbezogen sind russische Medienberichte über die Re-Stalinisierung des öffentlichen Raums (u. a. neue Stalin-Denkmäler in Vologda, Nikolsk und Ulan-Ude, Umbenennung des Flughafens Wolgograd in „Stalingrad International“), offizielle Aussagen von Gouverneuren und Duma-Abgeordneten sowie Dokumente des russischen Bildungsministeriums zum Pflichtfach „Grundlagen der russischen Staatlichkeit“. Die Vergleiche zu Iran (Gozinesh), Nordkorea (Songbun) und China (Sozialkreditsystem, Tianxia-Konzept) basieren auf allgemein bekannten Modellen der ideologischen Kontrolle. Alle zentralen Fakten – Existenz des Projekts, Karaganows Funktion, der Stalin-Kult und die neuen Strafgesetze gegen Kritiker – sind durch öffentliche Quellen belegt, die Analyse ordnet diese Entwicklungen historisch und geopolitisch ein.