„Wir wollen keinen Krieg.“ Hat man 1914 gesagt. Hat man 1938 gesagt. Und sagt man heute wieder. Laut. Überzeugt. Mit dem Brustton der moralischen Reife. Nur dass es diesmal wieder nichts ändert. Die Welt steht am Abgrund, sagt Italiens Präsident Mattarella. Und Europa? Guckt zu. Streitet über Wahltaktik, Ampelfarben, Klimarhetorik und regionales Gezänk. Als wär das alles, worum’s noch geht. Dabei sind wir längst mittendrin. Nicht in einem Weltkrieg. Aber in der Vorspeise davon.
Mattarella hat’s in Ljubljana glasklar gesagt: Die Welt steht auf einer Kante, und Europa wankt. Nicht, weil jemand den großen Krieg will – sondern weil alle denken, er wird schon ausbleiben. Weil man ihn ignorieren kann. Weil man innenpolitisch was reißen will, während außenpolitisch die Fundamente wegbrechen. Italien ist dafür das perfekte Beispiel. Regionalwahlen in Marken, Apulien und Venetien – und plötzlich ist alles andere zweitrangig. Die Ukraine? Zu weit weg. Russische Grenzverletzungen? Kein Thema. Russland fliegt nicht nur mit Drohnen über NATO-Gebiet – es testet systematisch den Luftraum, simuliert Angriffe, streut Desinformation und sticht gezielt in Schwachstellen. Und in Rom interessiert’s niemanden. Weil der Wähler nichts davon in seinem Portemonnaie spürt. Noch nicht.
Corriere della Sera nennt es, was es ist: organisierte Verantwortungslosigkeit. Regierung wie Opposition ducken sich weg, weil beide wissen, dass außenpolitische Klarheit innenpolitisch unbequem ist. Und während Europa schweigt, läuft das Spiel weiter. Kiew greift russische Raffinerien an, sabotiert Bahnen, legt Energie-Infrastruktur lahm. Gezielt, systematisch, ohne Illusionen. Der Krieg wird längst nicht mehr nur an der Front geführt – sondern tief in der russischen Logistik. Das ist kein Symbol, sondern Strategie. Wenn die Ölindustrie wankt, wankt das ganze System. Und wer glaubt, das sei zu hart, soll sich fragen, wie weich europäische Sanktionen gewirkt haben.
Gleichzeitig passiert, worauf Moskau die ganze Zeit spekuliert: Europa fällt nach innen. Die Polen kippen, die Franzosen zaudern, die Deutschen lavieren, die Italiener schlafen. In Polen wächst die Anti-Ukraine-Stimmung, genährt von Angst und Desinformation. In Deutschland zählt jedes Mikrofon, das „Eskalation“ murmelt, doppelt. In Italien fragt keiner mehr, warum russische Systeme NATO-Gebiet verletzen – Hauptsache, das nächste Krankenhaus bleibt offen. Genau da setzt Putins Spiel an. Der Krieg ist längst nicht mehr militärisch. Er ist psychologisch. Russland hat keine ökonomische Stärke, aber ein verdammt gutes Gespür für Risse. Für Selbstzweifel. Für Demokratien, die an sich selbst verzweifeln.
Italien ist dabei der Testfall. Jahrzehntelang Gasgeschäfte mit Moskau, politische Strömungen, die mit dem Kreml geflirtet haben, Medien, die lieber über Selenskyjs Pullover schreiben als über Luftangriffe. Da braucht es keine Einflussagenten – da reicht ein Fernsehstudio. Und Rom sendet das, was Putin hören will: „Wir haben Wichtigeres zu tun.“ Wer glaubt, das sei nur ein italienisches Problem, war noch nie in einer deutschen Talkshow. Oder in einem Berliner Ministerium. Die Rhetorik ist dieselbe: Wir wollen helfen – aber bitte ohne Risiko. Ohne Preis. Ohne Ärger mit Moskau. Als könnte man sich aus der Geschichte rausmoderieren.
Mattarellas Warnung gilt nicht Rom. Sie gilt uns allen. Europa steht nicht vor einem hypothetischen Krieg – es steht in einem realen Angriff. Nicht frontal, sondern schleichend. Nicht mit Raketen, sondern mit systemischer Zersetzung, Luftproben, Sabotageakten und einer permanenten Eskalation, die bewusst unterhalb der Reaktionsschwelle bleibt. Die Antwort Europas ist: Schweigen. Lavieren. Delegieren. Deutschland wartet auf Amerika. Italien wartet auf Deutschland. Frankreich wartet auf Umfragen. Und Russland wartet auf den Moment, in dem niemand mehr zurückschlagen will.
Die Ukraine kämpft – nicht nur um sich selbst, sondern um den Westen. Um das Recht, überhaupt noch sagen zu dürfen, was richtig ist. Wenn Italien fällt, fällt kein Staat. Dann bricht eine strategische Linie. Dann merkt der Kreml: Man muss keine Armee schicken. Es reicht, den politischen Willen zu brechen. Mit Angst. Mit Propaganda. Mit Gleichgültigkeit. Und wer glaubt, das sei weit weg, soll sich mal anschauen, wie oft in deutschen Redaktionen schon wieder das Wort „Verhandlungen“ fällt – ohne dass jemand sagt, wer dabei eigentlich gewinnen würde.
Kriege entstehen nicht, weil alle sie wollen. Sie entstehen, weil keiner sie verhindert. Und Europa ist gerade dabei, genau das zu wiederholen – mit offenen Augen und leerem Blick. Diesmal gibt’s keine Schlafwandler. Nur Verantwortliche.
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— Trollhunter