Russland hat offiziell 190 anerkannte Völker. Und keine Demokratie. Das ist kein Zufall. Denn Vielfalt ist in Moskau nur so lange erwünscht, wie sie keine Stimme hat. Wer im russischen Imperium nicht zur „titularen Nation“ gehört, darf vielleicht noch tanzen oder kochen – aber nicht entscheiden. Die kulturelle Vielfalt des Landes ist Kulisse. Sie wird ausgestellt, vereinnahmt, folklorisiert – und am Ende abgewürgt.
Gerade einmal ein Prozent aller Schüler in Russland wird heute in einer Sprache unterrichtet, die nicht Russisch ist. Und das in einem Land, in dem mindestens 20 Prozent der Bevölkerung ethnisch nicht russisch sind. Die Muttersprache darf in der Schule vielleicht noch als Nebenfach auftauchen – aber nur für die ganz Kleinen, und nur ein paar Stunden die Woche. Der Rest: durchrussifiziert, zentralisiert, gleichgeschaltet.
Wer aufsteigen will, muss Russisch sprechen. Wer aufs College will, muss Russisch schreiben. Wer einen Job sucht, muss Russisch denken. Und wer seine eigene Sprache behalten will, bekommt höchstens eine Bühne – mit Tanz, Gesang und nationalem Kostüm. Willkommen in der Potemkinschen Republik der Volksfreundschaft. Das Imperium duldet Vielfalt nur als Tracht.
Was der Kreml „Einheit“ nennt, ist in Wahrheit ein Programm zur kulturellen Enteignung. Autonomie wird als Bedrohung gerahmt, Selbstbestimmung als Extremismus. Sobald eine Minderheit mehr will als ein Volksfest, wird sie kriminalisiert. Wer sich politisch äußert, ist verdächtig. Wer Bildungsrechte fordert, ist ein „Separatist“. Und wer nicht russisch sein will, ist wahlweise ein Kind, ein Exot oder ein Feind.
Dutzende Regionalsprachen sind in den letzten 15 Jahren aus dem Unterricht verschwunden. Lehrer wurden nicht ersetzt, Schulbücher eingestampft, Curricula abgeschafft. Die offizielle Begründung: Wahlfreiheit. Eltern sollen selbst entscheiden, ob ihre Kinder Russisch lernen – oder nichts. Die tatsächliche Praxis: Wer die Landessprache will, bekommt sie als AG. Wer Russisch verweigert, bleibt auf der Strecke.
Gleichzeitig fährt Moskau sein Lieblingsprogramm: symbolische Anerkennung. Nationale Feiertage. Kulturtage. Tanzgruppen. Ethno-Museen. Bunte Diversity auf Bestellung. Aber eben nur an der Oberfläche. Politisch werden die Völker Russlands zurückgestuft – vom Subjekt zur Staffage. Vom Teil der Föderation zum Dekor der Nation. Wer mitsingen darf, soll nicht mitreden.
In der Sprache des Kremls bedeutet „Partnerschaft“ immer Unterordnung. Wer nicht zur Mehrheit gehört, ist von Natur aus zweitrangig. Das ist kein Betriebsunfall, sondern die Grundlage russischer Staatlichkeit. Seit Jahrhunderten. Von Kasan bis Kaukasus. Von Jakutsk bis Tschetschenien. Die Kolonisierten dürfen bunte Hemden tragen, aber keine Verfassungen schreiben. Ihre Sprachen werden geduldet, solange sie nicht stören. Ihre Lieder gefeiert, solange sie keine Forderungen enthalten.
Diese Logik hat System. Russland ist keine Föderation. Es ist ein Imperium im Föderationskostüm. Mit zentraler Kontrolle, imperialer Denkweise und kolonialem Reflex. Und genau deshalb passt die Ukraine auch nicht rein. Weil sie nicht tanzen will. Weil sie keine Tracht anzieht, wenn Moskau ruft. Weil sie nicht bereit ist, sich folklorisieren zu lassen.
Russland sieht in den Burjaten keine Verbündeten. Es sieht Soldaten. Es sieht in den Tschetschenen keine gleichwertigen Partner. Es sieht Bedrohung oder Dienstpersonal. Und in den Ukrainern? Sie sind die schlimmste Kränkung überhaupt: ein nicht-russisches Volk mit eigener Sprache, eigener Geschichte und dem Willen zur Eigenständigkeit. Das darf nicht sein – und muss deshalb zerstört werden.
Deshalb bombardiert Russland keine Militärziele, sondern Schulen, Archive, Theater. Deshalb werden Lehrer gefoltert, Dichter verhaftet, Bücher verbrannt. Es geht nicht nur um Territorium. Es geht um Deutungshoheit. Um das Recht, Geschichte zu schreiben – und Sprachen zu verbieten. Der Krieg gegen die Ukraine ist nicht nur ein Krieg gegen ein Land. Es ist ein Krieg gegen jede Form von gleichberechtigter Identität.
Russland ist ein Reich, das keine Gleichheit kennt. Es kennt nur Stufen. Oben: die Russen. Unten: alle anderen. Die einen machen Politik. Die anderen machen Show. Ein Tschuktsche, der einen Witz erzählt, ist erlaubt. Ein Tschuktsche mit einer Meinung ist gefährlich. Wer dazugehören will, muss sich entwürdigen. Wer aufbegehrt, wird vernichtet.
Und genau deshalb kämpfen die Ukrainer. Nicht nur gegen Bomben. Sondern gegen ein Weltbild, das ihnen keinen Platz lässt. Sie kämpfen, um nicht zum Bühnenvolk zu werden. Um nicht als dekoratives Element in einem imperialen Skript zu enden. Um nicht als lebende Requisite im russischen Staatsfernsehen zu stehen, während ihre Sprache stirbt.
Sie kämpfen, weil sie nicht „integriert“ werden wollen. Weil Integration in Russland Assimilation heißt. Weil „Einheit“ Unterwerfung meint. Weil Gleichheit in diesem System eine Drohung ist – und keine Option.
Das ist keine Übertreibung. Es ist die russische Realität. Und wer heute noch glaubt, Russland wolle Frieden, sollte sich zuerst anschauen, was es seinen eigenen Völkern antut. Dann wird klar, was es mit anderen vorhat. Wer in Russland nicht russisch ist, ist nichts. Und wer nicht nichts sein will, muss sich wehren.
Der Widerstand gegen das Imperium ist kein Nationalismus. Es ist Überleben.
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— Trollhunter
Quellen und Einordnung:
Basierend auf Analysen des Jamestown Institute zur russischen Sprach- und Bildungspolitik sowie aktuellen Daten zur Situation nationaler Minderheiten seit 2010. Ergänzt durch russische Regionalquellen und unabhängige Studien zur sogenannten „Föderalisierung“ Russlands.



