Die Welt fragt, ob Russland verhandeln wird. Die eigentliche Frage ist: Ist die Welt bereit für ein Russland, das mitten im Krieg zerbricht?
Nicht danach. Nicht allmählich. Sondern jetzt – während noch geschossen, gebombt, gestorben wird.
Was passiert, wenn ein Staat stirbt, der Krieg nicht nur führt, sondern braucht? Wenn Frieden nicht Befreiung bedeutet – sondern Zusammenbruch? Genau das ist Russland. Keine Hypothese. Kein Szenario. Sondern Realität – sichtbar in Zahlen, Zitaten und Bildern, die nicht mehr zusammenpassen.
Und die erste Risslinie verläuft durch die Sprache. Wenn Sachar Prilepin – Putins Kriegsdichter, Donbass-Veteran, nationalistischer Lautsprecher – öffentlich fragt: „Was machen wir, wenn das alles zusammenbricht?“, dann ist das kein Ausrutscher. Es ist ein Leck im System.
Denn bevor Putin an einen Verhandlungstisch treten kann, müsste er das Fundament seiner eigenen Macht demontieren: die Lüge. Wie redet man mit einem „Nazijunkie“, den man selbst erfunden hat? Wie erklärt man, dass aus einem „teuflischen Marionettenstaat“ plötzlich ein legitimer Gesprächspartner wird? Putins Propaganda hat die Möglichkeit zur Verhandlung verbaut – für ihn, für das System, für alle, die darin gefangen sind. Frieden wäre nicht Sieg, sondern Selbstzerstörung.
Und trotzdem sondiert das System die Fluchtroute. Statt Atomraketen auf Florida zeigt das Staatsfernsehen ein russisches Mädchen im Trikolore-Kleid, das mit einem amerikanischen Jungen tanzt. Ein Propagandamärchen – mit klarer Absicht: testen, wie weich man werden kann, ohne dass das System hart reagiert. Das Muster ist alt. Schon der KGB flüsterte „Perestroika“, um herauszufinden, wer schweigt – und wer schreit.
Doch während das Fernsehen flötet, explodieren die Zahlen. Das Haushaltsdefizit ist fünfmal so hoch wie geplant. Die Militärausgaben liegen bei acht Prozent des BIP. Vierzig Prozent des Budgets fließen in Armee, Polizei und Repression. Ukrainische Drohnen treffen russische Raffinerien. Benzinpreise steigen um 47 Prozent. In Sibirien wird rationiert. Und der Wirtschaftsminister gibt zu: „Was wir sehen, ist der Rückspiegel.“ Der Zusammenbruch kommt erst noch.
Und trotzdem läuft der Apparat weiter. Weil er muss. Weil Russland kein Land mit Krieg ist – sondern Krieg mit Land.
Das System ruht auf drei Pfeilern.
Erstens: die alten Oligarchen. Abramowitsch, Fridman, die Schickeria der Vergangenheit. Sie träumen von Rückkehr – zu ihren Villen in Nizza, ihren Konten in Zürich, ihren Anwälten in London. Frieden wäre für sie ein Ticket zurück ins alte Leben.
Zweitens: die neuen Kriegsgewinnler. Drohnenfabrikanten. Panzerlieferanten. Gouverneure der Grenzregionen. Söldnervermittler. Telegram-Kriegshändler mit Direktleitung zur Macht. Für sie ist der Krieg kein Notstand, sondern Geschäftsmodell. Frieden wäre Bankrott.
Drittens: die Armen. Männer, denen man dreitausend Dollar bietet – nicht für Patriotismus, sondern für ihren Tod. Sie leben vom Krieg. Und sterben dafür. Sie sind das billige Bindemittel eines zerfallenden Systems.
Diese Koalition kann sich Frieden nicht leisten. Nicht politisch. Nicht wirtschaftlich. Nicht ideologisch.
Was also passiert, wenn Putin trotzdem Frieden will – oder muss?
Drei Szenarien stehen im Raum.
Das erste: der Friedensdeal. Putin setzt sich an den Tisch. Mit wem auch immer. Aber nicht als Sieger. Nicht mal als Akteur. Sondern als Geisel seiner Clans. Die alten Eliten wittern Öffnung, ihre Anwälte stehen bereit. Doch in dem Moment, in dem sie wieder Zugriff bekommen, verlieren die Kriegsbarone ihre Einnahmen. Der Staatshaushalt bricht ein. Die Kontrolle geht nicht durch militärische Niederlage verloren – sondern durch unbezahlte Rechnungen. Frieden wird zur Systemstörung.
Das zweite: die Militärherrschaft. Wenn Putin zögert, übernehmen die Falken. Keine klassische Junta. Eher ein hybrides Machtkartell: Generäle, Kriegsblogger, Nationalisten. Putin bleibt als Symbol – aber die Entscheidungen treffen andere. Und diese anderen verhandeln nicht. Sie denken nicht in Interessen, sondern in Mythen: Ehre, Reinheit, Verrat. Ihre Sprache ist der Dugin-Slang. Ihr Kanal: Telegram. Frieden wäre für sie nichts als Schande.
Das dritte: der Beria-Moment. Wenn Putin selbst zur Bedrohung wird, erledigen ihn die eigenen Leute. Wie Beria 1953. Wie Chruschtschow 1964. Ein „technischer Rücktritt“. Ein „plötzlicher Tod“. Doch auch das bringt keinen Frieden. Im Gegenteil: Die neuen Machthaber müssten Härte demonstrieren – mit Siegen, nicht mit Gesprächen. Postputinisches Russland wäre nicht ruhiger. Sondern radikaler.
Drei Szenarien. Drei Wege ins Chaos. Denn der eigentliche Krieg beginnt, wenn das System zum Frieden gezwungen wird.
Der Westen fragt: Wird Putin verhandeln? Die richtige Frage wäre: Hält Russland überhaupt einen Tag ohne Krieg aus?
Denn der Krieg ist längst keine Ausnahme mehr. Er ist Geschäftsgrundlage, Machttechnik, Angstregime. Er bringt Geld, Ordnung, Loyalität – und Ruhe.
Frieden bringt nur eins: die Quittung.
Willkommen in der Realität.
Und viel Spaß beim Suchen nach einer „Verhandlungslösung“.
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— Trollhunter
Quellen und Einordnung:
Die Angaben zu russischem Haushaltsdefizit und Militärausgaben stammen aus Berichten von Reuters, Bloomberg und SIPRI. Über die wirtschaftlichen Folgen der Kriegswirtschaft berichteten u. a. die Financial Times und Carnegie. Die politische Analyse knüpft an Szenarien von Thinktanks wie Chatham House und RUSI an. Das Beispiel mit dem Propagandavideo wurde in italienischen Medien (La Stampa, Corriere della Sera) aufgegriffen. Historische Parallelen (Beria 1953, Chruschtschow 1964) sind belegte Fakten der sowjetischen Geschichte.