November 10, 2025

In Moskau hat jemand das Tabu gebrochen. Elwira Nabulina, Chefin der russischen Zentralbank, ist in der Duma ans Pult getreten und hat etwas gesagt, das man im Kreml nicht sagt. „Wir könnten zurück in die 1990er rutschen.“ Für uns klingt das nach Übergangszeit. Für Russland ist das ein Schreckensszenario. Denn die 90er, das waren Hunger, Hyperinflation, Bankenzusammenbruch, zerfallende Armee, zusammenbrechende Löhne, nationale Demütigung. Putin hat seine ganze Macht auf einer einzigen Erzählung aufgebaut: Ich habe euch vor diesem Albtraum gerettet. Und jetzt kommt seine oberste Bankerin und sagt, der Albtraum kommt zurück. Das ist kein Signal. Das ist ein Alarmschrei.

Und sie schreit nicht ohne Grund. Die Lage ist brenzlig. Die Zinsen stehen bei 16,5 Prozent, die Inflation bei 8 Prozent, der Rubel ist angeschlagen, der Binnenkonsum stürzt ab, die Industrieproduktion bricht ein. Autos minus 20 Prozent, Panzer plus 30. Die russische Wirtschaft lebt nicht mehr vom Leben, sondern vom Sterben. Sie produziert keine Zukunft mehr, sondern Granaten. Und die Regierung will noch mehr. Die Oligarchen fordern Geld. Die Minister fordern Kredite. Die Kriegsindustrie frisst Ressourcen, als gäbe es kein Morgen. Und alle wollen, dass die Zentralbank einfach druckt, druckt, druckt. Aber Nabulina weigert sich. Nicht aus Mut oder Widerstand – sie kennt den Preis. Sie weiß, was passiert, wenn der Rubel kippt: Dann kippt alles.

Deshalb steht sie unter Dauerfeuer. Nicht nur politisch – auch symbolisch. Ein paar Tage nach ihrer Rede wird Andrei Melnikow verhaftet, Chef der Einlagensicherung, Teil ihres Einflussbereichs. Offiziell wegen Managementfehlern in einem Sibirischen Aquapark. Inoffiziell: Warnschuss. Klassischer Kreml-Stil. Erst erwischt es den Vertrauten, dann die Zielperson. Gleichzeitig geht ein Parteichef auf Sendung und erklärt, Nabulina sei „Agentin des ukrainischen Geheimdiensts“. Es ist wie aus einem sowjetischen Handbuch für Sündenbockmanagement: Wenn die Wirtschaft abstürzt, braucht man einen Feind im eigenen Apparat. Und je technokratischer der Kopf, desto besser. Denn solche Leute haben keine Lobby. Nur Zahlen.

Was Nabulina tatsächlich getan hat? Sie hat die Tür blockiert, bevor der Abgrund beginnt. Keine Kredite für Freunde des Systems, kein Freifahrtschein für Mobilisierung auf Pump. Ihre Ansage: Holt euch euer Geld am Markt. Wer es nicht schafft, hat kein Geschäftsmodell. Das ist keine Marktideologie – das ist ein Notmechanismus. Eine Erinnerung daran, dass selbst in Putins Staat noch ein paar Regeln übrig sind, bevor alles zusammenbricht. Das war eine offene Provokation. In einer Wirtschaft, die auf Gnaden und Beziehungen beruht, ist das wie ein Stromschlag ins Herz.

Und die Antwort kam sofort. Öffentlich, aggressiv, systemisch. Verhaftungen, Anschuldigungen, Druck. Nicht, weil Nabulina unbequem wäre – sondern weil sie stört. Weil sie Prozesse aufhält, die längst in Gang gesetzt wurden. Weil sie das Tempo bremst, mit dem der Kreml das Land ausbluten lässt. Sie ist keine Gegnerin des Systems. Sie ist ein Bauteil, das zu früh auf die Temperatur reagiert.

Ihre Zinspolitik ist kein Protest. Es ist die letzte Restfunktion eines Systems, das sich innerlich schon aufgibt. Stabilität ist nur noch Fassade, Währungsdisziplin nur noch Geräusch. Sie hält das Gleichgewicht nicht, weil sie an etwas glaubt – sondern weil alles andere sofort zusammenkracht. Sie rechnet. Und sie zählt mit, wie viele Tage noch bleiben, bis der Haushalt kollabiert.

Der Westen sollte genau hinsehen. Nicht weil in Moskau plötzlich jemand Vernunft zeigt, sondern weil selbst die loyalsten Technokraten sichtbar ins Schwanken geraten. Wenn das letzte Kontrollmodul zuckt, ist es nicht der Anfang von irgendwas – sondern das Ende. Und wir sollten uns nichts vormachen – dieses System zieht Kreise. Es destabilisiert, solange es atmet. Es exportiert Krise, weil es sich selbst nicht mehr halten kann. Wer glaubt, man könne es wirtschaftlich überleben lassen, wird mitbezahlen.

Wenn Nabulina fällt, fällt der letzte Filter. Dann beginnt die reine Druckerpresse. Und danach beginnt nichts mehr. Keine Ordnung, keine Führung, keine Stabilität. Nur noch der Moment, in dem ein Brot mehr kostet als das Versprechen, dass morgen alles gut wird. Dann wird sie sagen: Ich hab’s gesagt. Und niemand wird es hören. Denn dann schreit das System selbst. Zu spät. Zu laut. Zu leer.

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— Trollhunter

Quellen und Einordnung:

Beruht auf einer Analyse der Berichte in La Stampa und ergänzenden Wirtschaftsdaten zu Russlands Finanzlage. Die Einschätzungen zur Zentralbankpolitik stützen sich auf offizielle Aussagen von Elwira Nabulina und öffentlich zugängliche Statistiken zur Inflation, Industrieproduktion und Haushaltslage der Russischen Föderation.

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