Es gibt diese bequeme Erklärung. Sauber, moralisch einordnend, gut gemeint:
Die armen Russen. Keine Jobs, kein Geld, keine Wahl. Also greifen sie zur Kalaschnikow. Nicht aus Überzeugung – aus Not.
Das klingt human.
Und ist brandgefährlich.
Denn es verschleiert, was tatsächlich passiert:
Dieser Krieg ist kein Versehen. Er ist kein Fehler. Er ist kein Schicksal.
Er ist für viele russische Männer – bewusst oder unbewusst – die einzige Aufstiegschance in einem Land, das ihnen nichts bietet außer Verfall, Alkohol und der Aussicht, bedeutungslos zu sterben.
Nicht Propaganda. Nicht Geld.
Sondern: der Ausbruch. Der Rollenwechsel. Der Selbstversuch.
Die Männer, die heute nach Awdijiwka, Bachmut oder Cherson geschickt werden, sind nicht blind.
Sie wissen, dass sie ein anderes Land überfallen.
Sie wissen, dass sie morden, zerstören, verschleppen.
Und sie wissen, warum sie es trotzdem tun:
Weil es ihnen nichts kostet, was sie zuhause noch brauchen würden.
Weil ihr Leben dort längst aufgehört hat.
Russland ist nicht verarmt.
Es ist entleert.
Wer in der russischen Provinz aufwächst, lebt oft in einem Zustand ohne Hoffnung, ohne Struktur, ohne Ziel.
Jahrzehntelang wurde ihnen nichts gegeben – keine Bildung, keine Stimme, kein Aufbruch.
Jetzt gibt es etwas: Uniform. Gewehr. Feindbild.
Und plötzlich – bist du jemand.
Die Ukraine ist für viele nicht das Ziel. Sie ist der Vorwand.
Ein Mann, der sein Leben lang niemand war, wird mit einem Mal Teil von etwas.
Das Training? Der erste geregelte Tagesablauf.
Der Einsatz? Die erste Fahrt aus dem Heimatkaff.
Der Krieg? Die erste Gelegenheit, Macht zu spüren.
Nicht alle, aber viele kommen nicht, weil sie müssen –
sondern weil sie können.
Für sie ist dieser Krieg kein Genozid.
Es ist der Versuch, sich neu zu erfinden.
Mit dem Gewehr in der Hand öffnet sich eine Welt, die ihnen vorher verschlossen war:
- Sie werden gesehen.
- Sie werden gefürchtet.
- Sie erleben Zugehörigkeit.
- Sie gewinnen Bedeutung.
Für Männer, die in ihren Heimatorten nichts als Gleichgültigkeit kannten, ist das eine Umkehr der Verhältnisse.
Für den Westen: unvorstellbar.
Für Russland: Alltag.
Und deshalb scheitert der Westen.
Weil er psychologisiert, wo er analysieren müsste.
Er glaubt, die Russen bräuchten nur Alternativen.
Bessere Schulen. Weniger Propaganda. Perspektiven.
Aber was soll man einem Mann anbieten, der längst beschlossen hat, dass es in seinem Leben nichts mehr zu verlieren gibt?
Solche Menschen kommen nicht wegen Rubel.
Sie kämen selbst dann, wenn sie dafür zahlen müssten.
Sie hassen die Ukraine nicht, weil sie manipuliert wurden.
Sie fürchten sie, weil sie sie durchschaut.
Die Ukraine kennt Russland. Nicht als Idee, nicht als Kultur, sondern als Realität.
Ukrainer wissen, dass das russische Image nur Fassade ist – eine dünne Schicht,
unter der jahrhundertelang Gewalt, Machtwille und Selbstbetrug liegen.
Und diese Klarheit ist tödlich für jedes Imperium.
Wer dich enttarnt, muss verschwinden.
Deshalb geht es Russland nicht um Land.
Es geht um Erinnerung.
Es geht darum, jeden auszulöschen, der sagen kann, was du bist.
Und genau deshalb wird dieser Krieg nicht mit Diplomatie beendet.
Sondern mit Entschlossenheit.
Nicht durch Verträge. Nicht durch Appelle.
Sondern dadurch, dass die Kosten zu hoch werden.
Die russische Gesellschaft muss lernen, dass der Preis für diesen Krieg nicht der Rubel ist –
sondern das Risiko, alles zu verlieren:
- Der Körper.
- Die Kontrolle.
- Die Geschichte.
- Das Gesicht.
Der Gedanke an die Ukraine muss sich für sie untrennbar mit Kontrollverlust verbinden.
Nicht als Mythos.
Sondern als Konsequenz.
Erst wenn die Geschichten, die in russischen Dörfern erzählt werden, nicht mehr von Helden handeln,
sondern von Amputationen, Schweigen und Verschwinden – erst dann endet der Strom.
Denn solange russische Männer in der Ukraine das Gefühl haben, jemand zu sein –
wird dieser Krieg weitergehen.
Nicht weil Putin es will.
Sondern weil sie es brauchen.
Weil es der einzige Moment ist, in dem sie Bedeutung spüren.
Weil ihr altes Leben so wenig wert ist, dass selbst der Tod im Krieg wie ein Aufstieg wirkt.
Die Aufgabe der Ukraine – und von allen, die es ernst meinen – ist klar:
Diesen Mythos zerstören.
Diesen Kick in eine Sackgasse verwandeln.
Die Reise in die Ukraine so unattraktiv, so endgültig, so beängstigend machen,
dass sie nicht mehr als „Chance“ wirkt – sondern als Drohung.
Nicht, weil man Gewalt will.
Sondern weil man verstanden hat, was Gewalt verhindert.
Zivilisation beginnt dort,
wo man den Irrsinn nicht mehr entschuldigt – sondern stoppt.
Dieser Text basiert auf dokumentierten Aussagen russischer Kriegsteilnehmer und unabhängigen Analysen zum soziokulturellen Kontext der russischen Mobilmachung. Eine Auswahl:
– Meduza (2023): Interviewreihe mit mobilisierten Russen, die den Krieg als „Neustart“ ihres Lebens beschreiben.
– Radio Free Europe / Radio Liberty (2022): Reportage über Männer, die freiwillig in den Krieg ziehen, um ihrer Bedeutungslosigkeit zu entkommen.
– Timothy Snyder (2022): Analyse zur Ukraine als „Spiegel“ Russlands – und zur aggressiven Reaktion auf diese Offenlegung.
– Conflict Intelligence Team (2022–2024): Auswertung freiwilliger Kriegsanmeldungen – nicht aus Überzeugung, sondern als Flucht aus Perspektivlosigkeit.
– SBU / ukrainische Sicherheitsdienste: Hunderte dokumentierte Aussagen russischer Kriegsgefangener über persönliche Motive – u. a. Langeweile, Schulden, Abenteuerlust.
Weitere Quellen auf Anfrage.