Das deutsche Jahrhundert – Russlands gefährlichste Wahrheit

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Verfasst von Watchdog

Dezember 3, 2025

Russland ist dieses Land, in dem gefühlt alles schiefgeht, was schiefgehen kann. Raketen fallen vom Himmel, bevor sie ihr Ziel sehen, die Wirtschaft hängt am Tropf, die Diplomatie wirkt wie Provinztheater, und am Ende sitzt der Laden beleidigt im Eck und bewirft die Nachbarn mit Dreck. Man könnte lachen, wenn es nicht so tragisch wäre. Denn dahinter steckt eine historische Konstante: Immer dann, wenn Russland halbwegs funktioniert hat, waren es andere, die den Laden geführt haben. Ukrainer. Tataren. Und am wichtigsten: Deutsche.

Der Anfang ist „Zalessje“ – das „Land hinter dem Wald“, eine finno-ugrische Sumpfgegend nördlich von Kyjiw. Dort landen die jüngsten Söhne der Kyjiwer Fürsten. Nicht die Kronprinzen, sondern die, die im Machtzentrum nichts abbekommen. Sie kommen mit ein paar Hundert Mann, bringen Taufe, Sprache und Staatsidee mit – und stehen dann in einem Meer von Stämmen, die ethnisch und kulturell nichts mit ihnen zu tun haben. Ein ukrainischer Aufkleber auf einem finno-ugrischen Fundament.

Dann rollt die Goldene Horde rein. Russische Legenden reden vom „mongolischen Joch“. In Wahrheit ist es die erste Phase, in der dieses Gebiet überhaupt so etwas wie einen Staat hat. Horde heißt: Steuern, Befehle, Kontrolle, Gewaltmonopol. Kein Recht, keine Freiheit, aber ein durchgehender Apparat. Genau dieser Apparat wird später als „russische Staatlichkeit“ verkauft – nur in dunklerer Verpackung.

Der eigentliche Sprung passiert aber erst, als die Deutschen übernehmen. Und ja, es ist genau das: ein stiller, zwei Jahrhunderte langer Verwaltungswechsel. Spätestens ab dem 18. Jahrhundert ersetzt sich die moskowitische Elite selbst durch deutsche Fürstenhäuser. Nicht aus Liebe, sondern aus Pragmatismus: In Mitteleuropa gibt es unzählige Kleinstaaten, deren Prinzen und Prinzessinnen massenhaft verfügbar sind. Braunschweig, Mecklenburg, Holstein, Hessen – das ist die Region, aus der die „russischen“ Zaren plötzlich stammen.

Peter I. ist der erste, der komplett in diese fremde Welt kippt. In der deutschen Vorstadt vor Moskau lernt er ein Europa kennen, das mit der steifen Bojarenwelt nichts zu tun hat: Feiern, Trinken, Nächte durchmachen, Frauen mitten im Geschehen, europäische Offiziere, echte Technik. Für ihn ist das wie ein Kulturschock in die richtige Richtung. Und ab da ist die Logik simpel: Willst du, dass Moskowien irgendwas auf europäisches Niveau bringt, holst du dir Deutsche.

Katharina I.: Pastorentochter aus dem Baltikum.
Peter II.: Halb Deutscher, letzter männlicher Romanow.
Elisabeth: Halb Deutsche.
Katharina II.: Rein deutsche Prinzessin aus Anhalt-Zerbst.

Dazwischen Biron, Münnich, Ostermann, Manstein – deutsche Günstlinge, Generäle, Minister. Alles Figuren, die eher nach Schlossmuseum als nach Kreml klingen.

Der Fall Peter III. ist die perfekte Parabel. Ein deutscher Prinz aus Holstein, russisch murksend, preußisch denkend, bringt eigene holsteinische Truppen mit und will plötzlich Krieg gegen Dänemark führen. Die Petersburger Garde, die es sich in warmen Zimmern gemütlich gemacht hat, hat null Lust, in irgendein nordisches Moor zu marschieren. Lösung: Tabakdose an den Kopf, Kaiser tot. Russische Art von „Personalwechsel“.

Ironie: Ausgerechnet dieser verspottete Deutsche schafft die einzige echte Liberalisierung der gesamten Zarenzeit. Er hebt die lebenslange Dienstpflicht des Adels auf, erlaubt Ausreise und gibt erstmals individuelle Entscheidungsspielräume frei. Nicht aus Humanismus – er wollte einfach eine Umgebung, in der er sich nicht wie unter Sklaven fühlt.

Im 19. Jahrhundert wird das Ganze mathematisch. Alexander I., Nikolaus I., Alexander II., Nikolaus II. – über 90 Prozent deutsch, teils über 99. Zuhause Deutsch und Französisch, Russisch nur Bühnenpflicht. Alexander II. sprach ein Russisch, das selbst Zeitzeugen als hart, ungelenk und „deutsch gebrochen“ beschrieben.

Am Hof wird angeordnet, mehr Russisch zu sprechen. Die Höflinge lernen zwei Floskeln auswendig, murmeln sie, wenn der Zar im Raum ist, und schalten danach sofort zurück auf ihre echten Sprachen. Russische Nationalkultur als Theaterstück.

Und genau unter dieser Deutschverwaltung entsteht das, was heute als „große russische Kultur“ gilt. Nicht, weil die Zaren Dichter wären – sie schaffen nur die Infrastruktur, in der Puschkin, Gogol, Tolstoi überhaupt arbeiten können: Verlage, Theater, Unis. Ein deutsch geölter Staatsapparat, der sich selbst europäisiert, während die Bauern weiter im Leibeigentum versauern.

1917 zerstört alles. Lenin reißt die deutsch-europäische Oberschicht ab wie Tapete. Unter Stalin, Chruschtschow, Breschnew wird alles, was nach Westen riecht, abgeschabt. Zurück bleibt ein militarisierter Binnenstaat, der Raketen bauen kann, aber mental wieder dort ist, wo die Horde aufgehört hat: Befehl, Angst, Isolation.

Mit Jelzin und Putin endet das Kapitel endgültig. Die alten deutschen Netze sind weg, übrig ist eine finno-ugrische Funktionärskaste, groß geworden in sowjetischen Internaten und KGB-Schulen – eine Clique, die aus einem geerbten Palastimperium einen Bunker gebaut hat und ihn wie ein persönliches Schutzloch verwaltet.

Heute steht Russland da, wo es ohne Fremdsteuerung immer landet: beleidigt, isoliert, rohstoffabhängig, geopolitisch im chinesischen Keller. Kein deutsches Jahrhundert mehr, keine europäische Bedienungsanleitung, nur noch ein toxischer Reststaat, der Kriege anfängt, die er nicht gewinnen kann.

Und deshalb ist diese alte deutsche Fantasie einer „Partnerschaft mit Russland“ endgültig tot. Sie hat nur funktioniert, solange das Imperium faktisch von externen Eliten mitgeführt wurde.

Dazwischen steht die Ukraine. Nicht als Heilige, sondern als Mauer – die letzte zwischen Europa und einem sterbenden Imperium, das schon wieder anfängt, nach Westen zu greifen. Unterstützung für die Ukraine ist kein Idealismus. Es ist der Preis dafür, dass dieses Imperium dort bleibt, wo es hingehört: in seinem eigenen Loch.

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Quellen und Einordnung:

Der Text folgt einer historischen Einteilung, wie sie in ähnlicher Form bei Richard Pipes, Andreas Kappeler und Geoffrey Hosking zu finden ist: Russland durchläuft vier Strukturphasen – eine ruthenisch geprägte Gründungszeit im Zalessje, die tatarisch-hordische Staatsform, die deutsch dominierte Zarenepoche und die sowjetisch-postsowjetische Rückentwicklung unter einheimischen Eliten. Über diese Perioden hinweg zieht sich eine gemeinsame Linie: Moskau bezog seine Funktionsfähigkeit immer aus äußeren Systemen – administrativ, politisch oder kulturell. Die aktuelle Krise erscheint in dieser Perspektive als Rückfall in die Grundform, sobald alle fremden Einflüsse abgeschabt sind.
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