Kinder sind keine Schuldigen. Das ist ein zivilisatorisches Grundprinzip.
Und dennoch: Wenn eine Gesellschaft über Generationen hinweg fast ausschließlich Täter, Mitläufer und Schweigende hervorbringt – was genau erwarten wir dann eigentlich von den Kindern dieser Gesellschaft?
Diese Frage stellt sich immer drängender. Nicht aus Zynismus. Nicht aus Hass. Sondern aus Verantwortung.
Denn die Raketen, die ukrainische Städte treffen, werden nicht von alten Männern gebaut. Nicht von Sowjet-Nostalgikern ohne Internet. Sondern von jungen Russinnen und Russen mit Zugang zu Wissen, Wahrheit und Alternativen. Die meisten von ihnen entscheiden sich nicht trotzdem für Mitmachen – sondern gerade deshalb.
Was wächst da heran?
Was wächst da heran, wenn das Ergebnis einer Bildung, einer Sozialisierung, eines Nationalbewusstseins immer wieder dasselbe ist: Gehorsam, Verachtung, Feindbildpflege, imperiale Sehnsucht?
Was entsteht aus einem Land, in dem „Zukunft“ nicht mit Forschung, Gerechtigkeit oder kulturellem Fortschritt verbunden ist, sondern mit Panzerkolonnen, Grenzverschiebung und dem tiefen Glauben, dass andere Völker eigentlich gar kein Existenzrecht haben?
Russland führt Krieg. Aber nicht allein mit Waffen. Es führt Krieg mit Generationen. Mit Weltbildern. Mit Erziehung. Mit Gesellschaftsstrukturen.
Eine unbequeme Frage
Und deshalb ist die Frage erlaubt – ja, sie ist nötig:
Was wird aus den Kindern, die in diesem System heranwachsen?
Was lernen sie? Was sehen sie? Was verinnerlichen sie?
Dass Menschenrechte westlicher Unsinn sind?
Dass die Ukraine kein Land ist?
Dass Amerika der Feind ist, Europa dekadent, und Russland moralisch überlegen?
Welcher Raum bleibt da für Empathie, kritisches Denken oder schlicht: Zweifel?
Was wächst in einem Klima moralischer Verwesung?
Wenn eine Gesellschaft jede moralische Selbstkorrektur verweigert, wenn sie jedes kritische Bewusstsein abtötet, jede Abweichung kriminalisiert, jedes Mitgefühl als Schwäche diffamiert – dann darf man nicht überrascht sein, wenn aus ihren Kindern keine Ärzte, Künstler, Journalisten oder Humanisten werden. Sondern Systemstützen. Funktionierende Teile eines Getriebes, das auf Zerstörung programmiert ist.
Es ist populär, von der „armen russischen Jugend“ zu sprechen. Von den „guten Seelen“, die doch nur Opfer des Systems seien.
Aber je länger dieser Krieg dauert, je mehr Mobilisierungen es gibt, je mehr Mitläufer sich melden – desto weniger tragfähig wird diese Erzählung.
Die Zahl, die keiner sehen will
Denn: Wo sind sie, die Verweigerer? Die Whistleblower? Die Saboteure? Die Stimmen der Jugend gegen den Krieg?
Es gibt sie. Aber sie sind so wenige, dass sie in Promille gemessen werden.
Was also ist realistischer: Dass dieses Land mit seiner nächsten Generation einen zivilisatorischen Neuanfang startet? Oder dass es einfach weiter produziert, was es seit Jahrzehnten produziert:
Funktionierende Täter mit Internetanschluss.
Die gefährliche Hoffnung
Der Westen tut sich schwer mit solcher Klarheit. Lieber redet man von „russischer Zivilgesellschaft“, von „Hoffnungsträgern“, von „nach Putin“.
Aber nach Putin kommt nicht automatisch Besserung. Nach Putin kommt genau das, was dieses System herangezogen hat.
Und wer die Augen davor verschließt, begeht einen schweren Fehler.
Die Frage, die wir uns stellen müssen
Die entscheidende Frage ist deshalb nicht: Haben russische Kinder eine Zukunft?
Sondern: Welche Zukunft haben sie – und was bedeutet das für uns?
Denn wenn eine Gesellschaft immer wieder zeigt, dass sie nicht aufhören will, ihre Nachbarn zu überfallen, ihre Kritiker zu verfolgen und ihre eigene Geschichte zu fälschen, dann darf man nicht so tun, als käme aus ihr irgendwann plötzlich etwas völlig anderes.
Es gibt kein Naturgesetz, das besagt, dass jede neue Generation automatisch besser wird.
Es gibt keine Garantie, dass aus jungen Russinnen und Russen einmal Menschen werden, die Brücken bauen statt Grenzen überschreiten.
Und es gibt kein moralisches Gebot, das uns verpflichtet, diese Illusion aufrechtzuerhalten.
Wer sich nicht verändert, bleibt gefährlich
Wer sich nicht verändert, bleibt gefährlich.
Wer nichts dazulernt, bleibt Täter.
Wer seine Kinder auf Lüge, Hass und Gehorsam trimmt, produziert keine Opfer – sondern die nächste Angriffswelle.
Deshalb reicht es nicht, auf das „Russland von morgen“ zu hoffen.
Wir müssen uns ehrlich fragen: Was bringt dieses Russland in die Zukunft? Und warum sollten wir dieser Zukunft trauen?
Die Antwort wird uns nicht gefallen. Aber wir müssen sie hören.