Kollektive Verantwortung: Warum Russland vor dem Spiegel davonläuft

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Deutschland kennt sie. Russland verweigert sie.
Kollektive Verantwortung ist kein einfacher Begriff. In Deutschland ist er schmerzhaft, historisch aufgeladen, identitätsstiftend – und überlebensnotwendig gewesen.
In Russland ist er ein rotes Tuch. Eine Bedrohung. Ein Tabu.
Nicht, weil er falsch wäre.
Sondern weil er zu genau trifft.

Der große Selbstbetrug

Russland hat sich eine Parallelrealität geschaffen.
Darin existieren „die da oben“ – Kreml, Militär, Geheimdienste – und „wir hier unten“, die angeblich nichts mit alldem zu tun haben.
Doch das ist eine Illusion.
Wer den Krieg finanziert, indem er Steuern zahlt,
wer ihn legitimiert, indem er schweigt,
wer ihn duldet, indem er weitermacht –
macht sich mitschuldig.

Kollektive Verantwortung bedeutet nicht, dass jeder russische Bürger Täter ist.
Aber sie bedeutet, dass niemand mehr neutral ist.

Schuld beginnt nicht am Abzug

„Ich habe nicht geschossen“, „Ich war nicht an der Front“, „Ich bin doch nur Programmierer.“
Das ist die neue russische Ausrede – so populär wie einst „Ich war nur Befehlsempfänger“.
Aber moralische Verantwortung endet nicht dort, wo die Uniform beginnt.
Sie beginnt früher:
In der Entscheidung, sich nicht zu wehren.
In der Weigerung, hinzusehen.
Im Schweigen.

Die Opferpose als Schutzschild

Russland inszeniert sich gern als leidende Nation.
„Auch wir sind Opfer des Regimes“, heißt es dann.
Doch kollektive Verantwortung unterscheidet.
Sie fragt: Hast du gelitten – oder hast du andere leiden lassen?
Denn wer im Warmen sitzt, während Raketen Wohnblöcke treffen,
wer sein Gehalt kassiert, während Bomben Schulen zerreißen,
hat jedes moralische Asyl verspielt.

Die große Ablenkung

Wenn Argumente enden, beginnen die Vergleiche.
Vietnam. Irak. NATO.
„Aber die Amerikaner…“
Ein Refrain, der nichts erklärt, nur ablenkt.
Denn kein US-Soldat feuert Raketen auf Charkiw.
Keine NATO-Drohne jagt ukrainische Kinder.
Die Täter heißen nicht Washington.
Sie heißen Moskau.
Und sie sprechen Russisch.

Der Holocaust als Feigenblatt

Ein besonders zynischer Trick russischer Propaganda:
Der Verweis auf den Holocaust – als Maßstab, den man angeblich nicht erreicht habe.
„Keine Gaskammern, keine Züge, keine sechs Millionen Tote – also keine Verantwortung.“
Diese Logik ist perfide.
Denn sie reduziert das Maß moralischer Schuld auf industrielle Effizienz.
Als wäre Massenmord erst dann verwerflich, wenn er rationell organisiert ist.
Das ist keine Verteidigung – das ist Selbstentlarvung.

Die Erbsünde der Gleichgültigkeit

Kollektive Verantwortung bedeutet nicht Kollektivschuld.
Sie bedeutet nicht, dass Russen sich geißeln müssen.
Aber sie verlangt Anerkennung. Einsicht. Konsequenz.
Wer das ablehnt, zeigt:
Nicht die Wahrheit ist das Problem –
sondern ihre Folgen.

Denn dann wird es unbequem.
Dann kommt der Verlust von Privilegien, von Visa, von Arbeitsplätzen.
Und plötzlich wird nicht der Krieg beklagt –
sondern die Reaktion der Welt.

Das neue Narrativ: Wenn schon die Türken…

Aktuell besonders beliebt:
„Die Türkei hat sich für den Genozid an den Armeniern auch nicht entschuldigt.“
Der Subtext: Wenn andere sich rauswinden, dürfen wir das auch.
Doch das ist keine Entlastung –
das ist eine Bankrotterklärung.
Moralisch, historisch, menschlich.

Deutschland als Gegenbild

Deutschland musste lernen, was kollektive Verantwortung bedeutet.
Nicht freiwillig – aber konsequent.
Schritt für Schritt: Erinnerung, Aufarbeitung, Verantwortung.
Das war der Preis für Rückkehr in die Zivilisation.

Russland aber will diesen Preis nicht zahlen.
Es will Krieg führen – und Verständnis ernten.
Zerstören – und als Opfer gelten.
Töten – und geliebt werden.

Wer schweigt, der stimmt zu

Der Satz stammt aus der deutschen Nachkriegszeit.
Er gilt noch heute.
Denn Schuld entsteht nicht nur durch Tun –
sondern auch durch Unterlassen.

Und wer in Russland heute „nichts tun kann“,
meint in Wahrheit: Ich will nicht.

Was bleibt

Kollektive Verantwortung ist kein Angriff.
Sie ist ein Spiegel.
Und Russland weigert sich hineinzusehen.

Denn dort wartet kein Mythos von Größe, kein Imperium, kein Heldenepos.
Dort wartet: Schuld.
Versagen.
Mitsprache durch Schweigen.
Mitschuld durch Bequemlichkeit.

Und deshalb fürchtet Russland sie mehr als jede Sanktion.
Nicht, weil sie falsch wäre –
sondern weil sie gerecht ist.

By Watchdog